Das 7. Jost-Bürgi-Symposium wird wie seine Vorgänger wiederum zweigeteilt in einen Workshop für Historiker und an der Geschichte Interessierte, sowie in ein Zukunftsforum, das technische Innovationen in der Nachfolge Bürgis in allgemein verständlicher Form erläutert. Diesmal trennt beide Veranstaltungen ein halbes Jahr. Der Workshop wird durch die Bürgi-Sonderausstellung im St.Galler Kulturmuseum ersetzt (Vernissage am Freitag, 15. September 2023 und Finissage am Sonntag, 3. März 2024, beides in St. Gallen)[1], während das zugehörige Zukunftsforum am Samstag, 2. März 2024 wie gewohnt in Lichtensteig stattfindet, allerdings nachmittags und verbunden mit einem Kulturprogramm.
Flyer und Programm:
Vorträge 2022
Ein Erd- und Himmelsglobus Notkers des Deutschen
Die mögliche Existenz geographischer Abbildungen auf frühmittelalterlichen Globen ist zu überdenken. Meine Forschung in diesem Feld stützt sich auf jüngere Befunde aus der germanistischen Mediävistik, die in der Kartographiegeschichte bislang noch nicht beachtet wurden. Konkret handelt es sich um die neu interpretierte Übersetzung eines kosmographischen Exkurses im Boethius-Kommentar von Notker Labeo (um 950–1022) aus dem Althochdeutschen (Cod. Sang. 825). Im Rahmen von Erläuterungen zum Wert des irdischen Ruhmes macht Notker einen ausführlichen astronomisch-geographischen Exkurs über fast zwei Seiten. Um diese kosmographischen Betrachtungen den St. Galler Klosterschülern zu verdeutlichen, verweist er auf einen Globus, der «jüngst» unter der Ägide des Abtes Purchart II. (1001-1022) gebaut worden sei. Als Schulvorsteher und engagierter Lehrer, der dem Quadrivium nachweislich zugeneigt war, kommt Notker selbst als spiritus rector eines solchen kosmographischen Globusbaus infrage. Er macht wenige, aber sehr aussagekräftige Bemerkungen zum Aussehen und zur Funktionsweise des Globus. Seine einzigartige Auslegung zur Ausdehnung der Ökumene, die sich auch auf dem Globus wiederfand, macht die Konzeption durch Notker sogar sehr wahrscheinlich.
Das Untersuchungsobjekt ist nicht zu verwechseln mit dem mittlerweile als «St. Galler Globus» bekannten Modell von Tilemann Stella (1576). Allerdings gibt es hinsichtlich des kosmographischen Ansatzes erstaunliche Parallelen.
Die Gough Map
folgt
Fra' Mauro's Mappamondo
Die Mappamondo von Fra' Mauro (Mitte 15. Jh.) gilt als empirisch angelegte und damit für ihre Zeit innovative Weltkarte. Basis für dieses Urteil sind Auseinandersetzungen mit dem Zeichensystem der Karte, das neue Wissensbestände erkennen lässt. Allerdings bezieht sich die bisherige Forschung bei ihrem Urteil überwiegend auf immer wieder dieselben Einträge. Die große Fülle der Schrift- und Bildelemente auf der Mappamondo ist zwar erschlossen, bisher jedoch nicht systematisch analysiert worden. Das Dissertationsprojekt möchte der Frage nach dem innovativen Charakter der Karte am Beispiel des Kontinents Asien genauer nachgehen. Verfolgt wird die These, dass Fra' Mauro auf diesem Segment der Karte ein Asienbild schafft, welches, durch die Wirkstätte des Kartografen mitbeeinflusst, zwischen empirisch begründetem Wissen und der vorangegangenen Mappaemundi-Tradition oszilliert. Um diese These zu entfalten, werden die Schrift- und erstmals auch die Bildelemente der Mappamondo sowie ihre Herkunft identifiziert und damit der Wissensbestand beschrieben, welcher in die Karte eingeflossen ist. Anschliessend wird gefragt wie mit älterem Wissen umgegangen wurde. Besonderes Interesse gilt dabei den diskursiv formulierten Legendentexten und den dezidiert persönlichen Statements des Kartografen. Auf dieser Grundlage soll schliesslich die Innovativität der Mappamondo bewertet werden. Differenziert betrachtet werden soll, was darauf als empirisch und innovativ bezeichnet werden kann, was aus der Mappaemundi-Tradition übernommen oder in angepasster Form weiterverwendet wurde.
Das Heiligen Land Darstellen
Die frühe Neuzeit ist die Zeit von Zahl und Mass. Messung und Quantifizierung scheinen sämtliche Aspekte der Lebenswelt zu prägen. Eine Konjunktur, die gerne mit dem Aufstieg des rationalen und wissenschaftlichen Denkens in Europa in Verbindung gebracht wird. Zugleich blickt das genaue Messen auf eine lange Tradition als rituelle Praktik zurück, die mit wiederum mit vielfältigen Bedeutungsdimensionen verknüpft ist. Der Pilgerbericht des Nürnberger Kaufmanns Hans VI Tucher (1428-1491) verbindet diese, auf den ersten Blick gegensätzlich wirkenden Formen der präzisen Messung auf eindrückliche Weise. Die innovative Kombination von technologischer Neuerung und literarischer Traditionen dynamisiert dabei nicht nur die (gerne als repetitiv und eintönig bezeichnete) Form des Pilgerberichts, sondern ermöglicht eine gänzlich neue Form des Erfahrens, deren Spuren sich heute noch im Stadtbild Nürnbergs abzeichnen.
Jost Bürgi in Drehung: Kreisdiagramme und Rechenscheiben im frühen 17. Jahrhundert
Das Titelblatt zu Jost Bürgis Progress-Tabulen (1620) besticht nicht nur als Meisterleistung der Buchdruckkunst und Substrat des umfangreichen Tabellenwerks, es offenbart auch fundamentale Einsichten in die Natur der Zahlen und Zahlsysteme. Die Kreistopologie schlägt eine Brücke zur Geometrie, indem sie die mit Winkeln codierte Exponentialfunktion mit der logarithmisch-zyklischen Anlage unseres Stellenwertsystems verbindet. Rückblickend scheint der Schritt von Bürgis Kreisdiagramm zur Rechenscheibe für die Multiplikation ein kleiner. Der Vortrag versteht sich als Beitrag zur Geschichte der logarithmischen Kreisdiagramme und Volvelles – Papierkonstrukte mit rotierenden Teilen –, die in der Renaissance aufkommen. Insbesondere wird ein Blick auf Visualisierungen in der zeitgenössischen Musiktheorie, die sich mit eng verwandten Fragen befasst, geworfen. Daraus ergeben sich zwanglos Möglichkeiten, Themen des Mathematikunterrichts wie geometrische Folgen, Logarithmen und Modulo-Arithmetik historisch zu untermauern und unkonventionell zu motivieren. Das Basteln von Rechenscheiben für die Musiktheorie sensibilisiert Lernende für Fragen der Rechentechniken und Zahlensysteme und fördert historisch verankertes entdeckendes Lernen. Die zu erbringenden Transferleistungen schärfen den Blick für fächerübergreifende Themen.
Die musikalischen Beiträge finden Sie hier: https://www.muzzulini.ch/sounds/sounds.html
Rechnen mit Jost Bürgi - Beispiel zur Lehrkunst-Didaktik
In der Lehrkunstdidaktik wird der Unterrichtsstoff mithilfe von Lehrstücken erarbeitet, eine lebendig gestaltete, zusammenhängende Lernaufgabe. Dabei werden die Schüler/innen in (Alltags-)Situationen der damaligen Zeit versetzt und versuchen, Fragen dieser Zeit – eben wie bei Jost Bürgi die Frage "Wie kann ich effizient rechnen?" – selbst zu erforschen und Lösungen zu finden. Dies mit Hilfe von Originaltexten, aber ohne die heutigen Fachbegriffe und Theorie zu kennen. Ganz nach dem Motto: "Unterricht ist dann am spannendsten, wenn alle am Rätseln sind." Lehrkunstdidaktik konzentriert sich auf die Verdichtung schulischer Lernprozesse zu Bildungsprozessen.
Im Lehrstück von Hans Brüngger werden zu Beginn Rechenaufgaben wie 3.82 . 6.57 oder 12.628 : 5.483 gestellt, die man heute in kurzer Zeit mit dem Taschenrechner lösen wurde – doch dieser ist im Lehrstück verboten. Mit gezielten Fragen und Hinweisen tasten sich die SchülerInnen an die Lösung heran und treten in die Fussstapfen Jost Bürgis. Die Schülerinnen und Schüler sollen mit vollziehen können, wie Bürgi neue Erkenntnisse gewann und wesentliche Entdeckungen machte.
Die ganze Klasse zusammen erstellt u.a. mit Bürgis Ideen eine grosse Logarithmentabelle, mit deren Hilfe die ursprünglichen Rechenaufgaben rasch gelöst werden können. Die Tabelle erklärt aber auch die Logarithmengesetze und das Wurzelziehen. Den Abschluss des Lehrstücks bildet die Betrachtung der logarithmischen Skalen sowie die Funktionsweise der Rechenschieber und zeigen so, dass Bürgis Werk bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts aktuell war.
Sinnlose Modelle?
Wenn man 100 ETH Studenten der höheren Semester nach einem Beweis befragt, dass die Erde sich um die Sonne drehe, bekommt man im besten Fall 2 -3 vernünftige Antworten. Als moderne Menschen sind sie zufrieden, wenn sie ein Modell haben, das die Zukunft treffend voraussagt. Sie sind Ingenieure wie Jost Bürgi mit seinen „analogen Computern“, die die Stellung der Gestirne „berechneten“. Yuval Harari hat den Mut, Modernität in einem Satz zusammenzufassen: „Humans agree to give up meaning for power“. Ganz im Gegensatz zu Kepler, Galilei und Newton, die von ihren Modellen verlangten, dass sie auch sinnvoll sind. Ein Dilemma, das uns heute wieder stärker beschäftigt.
Präsentationen:
Flyer und Programm:
Vorträge 2021
Vermessene Welten: Die Bedeutung von Bürgis Triangularinstrument für fürstliche Repräsentation
Das Instrument ermöglicht Entfernungsmessung ohne Rechnung: Zunächst wird die Länge einer der Strecken eines Geländedreiecks bestimmt und auf der am Stativ befestigten Basis-Regel eingestellt. Nacheinander peilt man dann mittels der beiden anderen Regeln von den Endpunkten dieser Strecke den dritten Geländepunkt an. Das Dreieck, das die drei Regeln des Instruments bilden, ist dem Geländedreieck ähnlich, so dass man direkt den Abstand des dritten Geländepunkts von der Basislinie ablesen kann. Bürgi erhielt von Kaiser Rudolph II. ein Patent, um im Heiligen Römischen Reich ohne Konkurrenz dieses Instrument herstellen zu dürfen.
Zur Geschichte der Ortsbestimmung auf See
Heutzutage ist es spielend leicht, mittels GPS die eigene Position auf dem Globus hochpräzise zu bestimmen. Der Weg zu diesem Entwicklungsstand war lang und durchaus nicht immer geradlinig. Im Vortrag soll ein chronologisch weiter Bogen geschlagen werden: Dieser wird von der küstennahen Navigation früherer Jahrhunderte über das sogenannte „Zeitalter der Entdeckungen“, in dem neue Verfahren und Instrumente zum Einsatz kamen, der Entwicklung der Seekarte und der Lösung des Längenproblems bis hin zum Aufkommen der satellitengestützten Ortsbestimmung reichen.
Die erste Übersetzung des Hauptwerkes von Nicolaus Copernicus für Jost Bürgi in Kassel
Am Hof des gelehrten Kasseler Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen wurde das Werk von Copernicus intensiv diskutiert. Da Bürgi die lateinische Sprache nicht beherrschte, war er davon ausgeschlossen, doch spürte er, dass er die neuen Erkenntnisse in seinen Werken berücksichtigen müsse. Bei einem Besuch des Astronomen Nicolaus Reimers Ursus bot sich ihm eine Gelegenheit. Bürgi hatte Reimer einige mathematische Dinge vermittelt und zum Dank dafür übersetzte dieser für Bürgi das Werk des Copernicus in die frühneuhochdeutsche Sprache. Dies ist ein bemerkenswertes Detail der Geschichte der Astronomie und der Sozialgeschichte der Wissenschaften.
Michel Varro, Genevan forerunner of Galileo
In the times when Geneva was far from being the renowned scientific center it would become only much later, a Genevan scholar contemporary of Jost Bürgi, Michel Varro, published an unexpected treatise, De motu tractatus, the only written testimony of his rather sophisticated conceptions on mechanical equilibrium and motion. Reaching conclusions which sometimes announce the Galilean revolution, Varro‘s work illustrates quite well the intellectual effervescence preparing the forth-coming modernity.
Über die frühe Geschichte der Logarithmen
Neben einem kurzen Abschnitt über die Eigenschaften der Logarithmusfunktionen geht es um die Beiträge von Michael Stifel über Jost Bürgi, John Neper, Henry Briggs, Johannes Kepler u.a. bis Leonhard Euler zu den Logarithmen.
Bürgis geniale Erfindung der Potenzentabelle
Wir betrachten Bürgis Erfindung der Potenzentabelle im geschichtlichen Rahmen: Was stand Bürgi zur Verfügung? Wie hat er sich wohl für die Konstruktion der Potenzentabelle entschieden? Die Titelseite der Tabelle schlägt offensichtlich die Erfindung der Rechenscheibe vor. Sicher hat Bürgi das erkannt. Er hätte die Rechenscheibe in 1-2 Wochen berechnen und bauen können. Warum hat er das nicht verfolgt? Zum Schluss vergleichen wir Bürgis Potenzentabelle mit Napiers und Briggs’ Logarithmustabellen.
Contemplating 400 years of Bürgi’s logarithms: The first four years after the German/English edition
Scholars have much more knowledge now—especially in the last decade—about the mathematical and scientific prowess of Jost Bürgi. This is due in part to the efforts of the Bürgi Symposium, as well as publications of Bürgi’s works and about his life. In this presentation I will discuss the potential for considering Bürgi’s conception
of logarithms for didactical purposes in secondary and tertiary classrooms, as well as problematize narratives about the historical development of logarithms
which omit Bürgi’s contribution.
Jost Bürgi besucht Schulen – Schulen besuchen Jost Bürgi
Um Leben und Werk Jost Bürgis lebendig zu halten, ist es wichtig, dass die Jugendlichen von heute mit ihm in Kontakt kommen. Unter " Jost Bürgi besucht Schulen" stelle ich mir eine Unterrichtsmappe (mit historischen, mathematischen, astronomischen, usw. Beiträgen) für Lehrpersonen vor. Bei "Schulen besuchen Jost
Bürgi" handelte es sich um Exkursionen (evtl. mit Führung) von Schulklassen nach Lichtensteig. Im Workshop würde ich erste Ideen dazu präsentieren, die Realisation diskutieren und das weitere Vorgehen abklären.
Präsentationen:
Der erste mit einem Tagungsband dokumentierte Experten-Workshop war ein voller Erfolg. Folgend sind die Kurzreferate der Referenten aufgeschaltet.
Der erste konstituierende Experten-Workshop wurde im Jahre 2016 in Lichtensteig initiiert. Hier finden Sie das Programm.