Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verfasst Jost Bürgi einen Überblick seiner Rechenmethoden, seine Arithmetica Bürgii, sendet sie an Kepler und erhält sie 1601 von Kepler redigiert zurück. Publiziert hat Bürgi sein Meisterwerk nicht. Der Text wird später immer wieder mit dem Namen „Die Coss“ zitiert. Die Coss, wörtlich „das Ding“. Warum „das Ding“ und warum hat Bürgi seine Erkenntnisse nicht publiziert?
Galilei hatte eine klare Meinung: Die Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, oder etwas ausführlicher im Originalton seines Saggiatore, im Abschnitt 6:
„Die Philosophie ist geschrieben in jenem grossen Buche, das immer vor unseren Augen liegt; aber wir können es nicht verstehen, wenn wir nicht zuerst die Sprache und die Zeichen lernen, in denen es geschrieben ist. Diese Sprache ist Mathematik, und die Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, ein einziges Wort davon zu verstehen; ohne diese irrt man in einem dunklen Labyrinth herum.“
Wenn wir Menschen des 21.Jahrhunderts diesen Text lesen, denken wir an Formeln wie s = 0.5 * g* t 2, das Gesetz des freien Falls, das Galilei entdeckt hat. Tatsächlich finden wir im gesamten Lebenswerk von Galilei keine einzige Formel, die in der Sprache der heutigen Mathematik geschrieben ist. Galilei hat alles in Prosa, in vollständigen Sätzen formuliert. Die Sprache der Natur ist zwar seiner Meinung nach in der Sprache der Mathematik geschrieben, aber die Sprache der Mathematik musste zuerst erfunden werden. So hat etwa Tartaglia 1535 seine Lösung von Gleichungen 3. Grades nicht in Form einer Formel publiziert, sondern einfach mit der Ankündigung, dass er diese Gleichungen lösen könne. Mit solchen Fähigkeiten konnten Mathematiker seiner Generation ihre Saläre an den Universitäten nach oben treiben. Andere haben, um ihre Prioritätsansprüche geltend zu machen, Lösungen in Form von Anagrammen publiziert. Robert Hooke etwa umschrieb 1676 sein Gesetz der Feder mit „ceiiinosssttu“ was „ut tensio sic vis“ bedeutete: Die Kraft der Feder ist proportional zur Auslenkung. Bürgi ist nicht der Einzige, der Publikationen zurückgehalten hat! Man wollte damals, wie heute, seine Fähigkeiten schützen, hatte aber noch kein Copyright zur Verfügung.
Die heutige Sprache der Mathematik entstand erst im 18. Jahrhundert. Wir verdanken sie weitgehend Leonhard Euler, 1707 – 1783. Seit Eulers monumentalem Werk kann man mathematische Abhandlungen ohne grössere sprachliche Probleme lesen. Wenn man heute die mathematischen Arbeiten von Bürgi jemandem erklären will, macht man zuerst eine Übersetzung in die Sprache von Euler, in die heutige Formelsprache. Euler hat alle seine Erkenntnisse in lateinischer Sprache geschrieben, mit zwei Ausnahmen: „Briefe an eine deutsche Prinzessin“ und seine „Vollständige Anleitung zur Algebra“, wo man viele der interessanten Beispiele findet, die wir heute noch in der Mittelschule verwenden.
In der Mathematik gibt es eine Grösse, die uns alle immer wieder fasziniert: Es ist die Unbekannte x. Sie gilt es zu finden. Die frühen italienischen Mathematiker nannten sie „Cosa“, das Ding, das gleiche Wort, das die Maffia in ihrem „Cosa Nostra“ verwendet. Im Lateinischen wurde daraus „Numerus Cossicus“ und im Deutschen „Die Coss“, wie Petr Beckmann in seinem Buch „A History of π“ feststellt. Jost Bürgi war sein Leben lang immer auf der Suche nach den Unbekannten, sei es die exakte Berechnung von Sinustafeln oder die Stellung der Planeten mit Hilfe seiner „analogen Rechenmaschinen“, seiner Himmelsgloben. Damit hat er seinen Lebensunterhalt verdient und wollte wahrscheinlich wie viele seiner Zeitgenossen seine Fähigkeiten nicht unter ihrem Wert preisgeben.
Roman Boutellier, 2022