Warum hat Jost Bürgi nicht die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegung entdeckt?

 

EINE AKTUALISIERUNG DER POSITION BÜRGIS

 

Von 1604 bis 1612 arbeiteten sowohl Jost Bürgi (1552–1632) als auch Johannes Kepler (1571–1630) am Kaiserlichen Hof in Prag und tauschten dort, zumindest in den ersten Jahren, auch ihre wissenschaftlichen Ergebnisse aus.

 

Beide wurden dafür bezahlt, Materialien zu erstellen, mit deren Hilfe sich die Positionen von Himmelskörpern vorherbestimmen liessen, Kepler für die Rudolfinischen Tafeln, Bürgi für seine astronomischen Globen und Uhren. Beide verfügten über astronomische Messdaten, die den höchsten Standards einer Zeit vor Benutzung des Fernrohrs genügten, Kepler über Tycho Brahes (1546–1601) auf Hven gemessene Daten, Bürgi über die aus Kassel. Beide waren erfahrene Zahlenrechner, die nicht vor Aufgaben zurückschreckten, die Jahre in Anspruch nahmen, zumindest für andere. Und beide waren unkonventionell genug, die eigentlich von Platon verbotenen Ellipsen für die Beschreibung von Planetenbahnen zu verwenden.

 

Dennoch hat Kepler die nach ihm benannten Gesetze der Planetenbewegung entdeckt, und Bürgi nicht. Warum ist es so und nicht anders gewesen?

 

Kontrafaktische Fragen gelten häufig als müssiges Gedankenspiel, in diesem Fall aber hilft die Frage beim Verständnis der verschiedenen Zugänge von Kepler und Bürgi zu der Beschreibung der Planetenbewegung:

 

Kepler hatte eine akademische Ausbildung in Astronomie und Mathematik durchlaufen, die grosses Gewicht auf die griechische Klassik legte. Ganz in der Tradition der antiken pythagoreischen Schule war sein Ziel, in der Welt, speziell im Weltall, Harmonien zu finden, die sich mit Hilfe der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, … ausdrücken lassen. In den Messdaten, die ihn zur Verfügung standen, suchte er nach solchen Harmonien, teilweise mit kreativen, teilweise mit unzulässigen Schlüssen: Weil die Abstände der sechs zu seiner Zeit bekannten Planeten zur Sonne sich in etwa so verhielten, als seien zwischen ihre Bahnen Platonische Körper eingeschachtelt, ging er nicht nur davon aus, dass diese mathematische Konstruktion in der Tat die Planetenbahnen bestimmte. Sondern er schloss auch aus der Tatsache, dass es nur fünf Platonische Körper gibt, dass es nur sechs Planeten geben kann, weil eben fünf Körper zwischen ihre Bahnen geschachtelt waren.

 

Dieses Resultat veröffentlichte Kepler bereits 1597, aber noch über zwanzig Jahre später stand es in seinen Harmonices Mundi Libri V nur drei Druckseiten entfernt von seinem 3. Gesetz der Planetenbewegung, dass die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten sich so verhalten wie die Kuben der grossen Halbachsen ihrer Bahnen.

Für beide Aussagen beanspruchte er den gleichen Wahrheitsgehalt. Die zweitgenannte wird heutzutage im Rahmen der Newtonschen Mechanik aus dem Gravitationsgesetz herleitet; die erstgenannte hingegen wurde durch die Entdeckung weiterer Planeten schlichtweg widerlegt, was allerdings erst über ein Jahrhundert nach Keplers Tod begann.

 

Bürgis Produktion hingegen unterlag einer deutlich kurzfristigen Qualitätskontrolle: Er benutzte die astronomischen Messdaten und seine Rechenmethoden für astronomische Globen und Uhren, die die Positionen von Himmelskörpern anzeigten, baute also Analogrechner für die Simulation des Planetensystems. Eine diesem eventuell zu Grunde liegende Harmonie der Welt brauchte ihn gar nicht zu interessieren, solange seine mechanischen Werke die Planetenbewegungen hinreichend gut nachbildeten. Dieses rein praktische Kriterium war für ihn massgebend, nicht die Übereinstimmung oder doch zumindest die Widerspruchsfreiheit zu Texten aus der Antike.

 

Das wiedererwachte Interesse an Bürgi kann man somit auch dadurch verstehen, dass durch den Einsatz – heutzutage: digitaler, nicht analoger – Rechenmaschinen sich die Simulation, neben Experiment und Theorie, als dritte Säule wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung etabliert hat.

 

In aller Kürze kann man die unterschiedlichen Paradigmen von Kepler und Bürgi also wie folgt charakterisieren:

  • Kepler war der, auch stark theologisch, geprägte Naturphilosoph, der das System der Himmelskörper verstehen wollte,
  • Bürgi war der Ingenieur, der Maschinen entwickelte, die die Bewegung der Himmelskörper nachvollzogen und vorhersagten.

Prof. Peter Ullrich, Universität Koblenz

 

Der obige Text greift die zentralen Aussagen des Plenarvortrags von Peter Ullrich, Mitglied des Bürgi Kernteams auf, den er auf der gemeinsamen Jahrestagung der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft und der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft am 3. September 2021 in Innsbruck hielt. Das Extended Abstract dieses Vortrags kann durch Anklicken des Buttons (unten) abgerufen werden, sowie von unserer Datenbank https://www.jostbuergi.com/bibliothek/wissenschaft/.

 

Bernhard Braunecker

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