Beim Kepler-Jubiläum feiert diesmal Bürgi mit

Am 27. Dezember vor 450 Jahren kam der grosse Astrophysiker Johannes Kepler im württembergischen Weil-der-Stadt zur Welt: bei seiner Geburt zeigte der Julianische Kalender das Datum 27. Dezember 1571 an. Zwölf Jahre später bei der Kalenderreform unter Papst Gregor XIII. wurde ein kalendarischer Zeitsprung von zehn Tagen nach vorne gemacht und später drei Jahrhundert-Schalttage hinzugefügt. Somit fällt Keplers Geburtstag auf Sonntag, den 9. Januar 2022 und direkt anschliessend am Montag wird in Stuttgarts Haus der Wirtschaft eine Jubiläumsausstellung eröffnet. Die Wende in die Neuzeit, die Kepler selbst einleitete und die seinen Namen trägt, war jedoch viel einschneidender. Neue Erkenntnisse zeigen auf, dass dabei dem mathematisch-technischen Universalgenie Jost Bürgi (1552-1632) eine ebenso wichtige Rolle zukam, wie dem mit seiner Zensurhoheit bis heute die Geschichtsschreibung massiv verzerrenden Tycho Brahe (1546-1601). Der Uhrmacher Jost Bürgi stammte aus dem toggenburgischen Städtchen Lichtensteig und entfaltete sich in Kassel am Fürstenhof zwischen 1579-1603 zum mathematisch-technischen Universaltalent. Ein weiteres Vierteljahrhundert wirkte er in Prag am Kaiserhof im Amt des kaiserlichen Uhrmachers, davon acht Jahre zusammen mit Johannes Kepler. 

 

Johannes Kepler entdeckte in Prag zu Ostern 1605 nach zahlreichen Berechnungsversuchen der Bahn des Mars, dass er und die anderen Planeten auf elliptischen Bahnen die Sonne umkreisen, und dies gemäss seinem Flächensatz in wechselnden Geschwindigkeiten. Mit den nach ihm benannten drei Planetengesetzen begründet Johannes Kepler nicht nur die Astrophysik, sondern ganz allgemein die wissenschaftliche Methode der Integration von Beobachtung, Messung, Mathematik und Physik. Darüber hinaus entdeckt und beschreibt er ebenfalls in Prag die Grundlagen des Sehens und der technischen Optik mit Gesetzen, denen wir heute noch heute folgen. 

 

Bürgi in Kassel  doppelt so genau wie Brahe auf Hven

Was sich seit dem letzten Kepler-Jubiläum des 400. Geburtstages 1971 geändert hat, ist unser Wissen über die Umstände und Partner am Kaiserhof Rudolfs II. in Prag. Dazu zählt, dass es nicht der damals auf der dänischen Öresundinsel Hven zwei riesige Observatorien betreibende Tycho Brahe war, der dem stark fehlsichtigen Kepler die genauesten Stern- und Planetendaten zur Verfügung stellte, sondern der auf der  Sternwarte Kassel von 1579 bis 1603 unter dem Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel die Himmelskörper beobachtende Jost Bürgi (1552-1632). Erst im März 2021 wurde eine internationale Studie* abgeschlossen. Darin berichten die beiden Astronomen Andreas Schrimpf und Frank Verbunt über die mit den heutigen genauesten Methoden überprüften Genauigkeiten der von Tycho Brahe auf der Observatoriumsinsel Hven sowie der von Jost Bürgi mit Christoph Rothmann und Landgraf Wilhelm IV. auf der Sternwarte des Kasseler Stadtschlosses erhobenen astronomischen Daten. Die Autoren kommen dabei zum Schluss, dass die Johannes Kepler aus Kassel zur Verfügung gestellten Positionsangaben Bürgis doppelt so genau waren wie diejenigen Brahes von Hven.

 

Kombinierte Zeit- und Raumpositionsmessung

Der sich am Hofe des Landgrafen Wilhelm IV. von Hessen-Kassel vom Uhrmacher zum mathematisch-technischen Universalgenie entwickelnde Bürgi hatte erstmals die Zeitmesstechnik mit der Winkelmessung zur sogenannten Horizontalmessmethode verknüpft. Dazu Karsten Gaulke vom mathematisch-physikalischen Kabinett in Kassel: «Rothmann bestimmte am Quadranten den Kulminationszeitpunkt der Sonne, während Bürgi den Gang der Uhr kontrollierte und vom Zifferblatt die Ergebnisse ablas.» Voraussetzung war, dass es Bürgi gelungen war, eine fünfzehnfach genauere Uhr zu bauen als die besten damaligen Uhrmacher und einen kompakteren metallenen Sextanten und Quadranten mit genauerer Positionsablesung als Tycho Brahe. Mit dieser neuen wesentlich effizienteren Methode gelingt es Wilhelm IV. mit Bürgi und dem Astronomen Rothmann, den etwa fünfzigmal grösseren finanziellen Aufwand des auf der Insel Hven zwischen 1578-1597 mit riesigen Instrumenten in zwei Observatorien und bis zu dreissig Assistenten und Gästen vom dänischen König Frederik II. finanzierten Prestigeprojektes auszugleichen und dabei die Genauigkeit zu verdoppeln. Und diese war für die Bestimmung der mit acht Bogenminuten nur geringfügig vom Kreis abweichenden Marsbahn-Ellipse entscheidend.

 

Massiv verzerrende Brahe-Zensur in Keplers Hauptwerken

Dass dies jetzt erst entdeckt wird, hat viel mit der Zensur von Keplers beiden astronomischen Hauptwerken «Astronomia Nova» (1609) und «Tabulae Rudolphinae» (1627) durch die Erben Brahes zu tun. Sie gaben ihm nicht nur jahrelang die Beobachtungsdaten aus Hven nicht  heraus, sondern unterwarfen seine beiden Veröffentlichungen «Astronomia Nova» (1609) und «Tabulae Rudolphinae» (1627) einer rigorosen Zensur. In beiden Werken war die Nennung des Namens  Wilhelm IV. nicht erlaubt – dem Brahe viel verdankte – und derjenige Jost Bürgis jeweils einmal nur dann, wenn Kepler und Brahe dabei gut dastanden, Bürgi weniger gut. Die namentliche Erwähnung in der «Astronomia Nova» bezieht sich auf Bürgis geometrische Algebra, der der Neoplatoniker Kepler ablehnend gegenübersteht, und in den «Rudolfinischen Tafeln» auf Bürgis Logarithmentafeln, die dieser vor Napier erfunden, aber erst viel später und dazu noch unvollständig  veröffentlicht hatte. ** Ausserhalb dieser beiden Werke, in denen die Brahe-Erben keine Zensurrechte haben, hält Kepler mit seiner hohen Meinung über Jost Bürgi als Mathematiker nicht zurück und vergleicht ihn mit Dürer in der Malerei. ***

Im Geheimen war Johannes Kepler mit Bürgis Planetenbeobachtungsdaten nämlich ebenso vertraut wie mit seinen Mathematikinnovationen. Dazu zählen ausser der  Logarithmenrechnung und der Differenzenrechnung originelle Methoden und algebraische Verfahren wie der von Jost Bürgi als «Goldener Kunstweg» bezeichnete Algorithmus zur Sinusbestimmung. Allessamt Manuskripte, die Bürgi vor dem bereits am 24. Oktober 1601 Tycho Brahe und seinem die Brahe-Erben vertretenden Schwiegersohn Franz von Tengnagel verbarg. Zwei wichtige Manuskripte Bürgis zu diesen Verfahren, die Johannes Kepler für seine Berechnungen nutzen, darüber aber nicht berichten durfte, wurden erst in den letzten Jahren entdeckt. All dies war nur möglich, weil Jost Bürgi von 1603 bis 1612 mit Johannes Kepler befreundet war und direkt auf dem Hradschin mit ihm eng zusammenarbeitete.**** In dem Zeitraum  1604/05, in dem Kepler seine grosse Entdeckung der Ellipsenbahn gelang, schuf Bürgi für den Kaiser aufgrund eigener Messungen und Berechnungen eine Planetenuhr, die erstmals in der Geschichte ein heliozentrisches Planetarium besitzt. Bürgi hatte bereits 1591/92 in seiner Mondanomalienuhr und 1594 in seinem heute im Zürcher Landesmuseum ausgestellten Himmelsglobus einen elliptisch wirkenden Antrieb eingebaut.

 

Karikatur auf dem Tempeldach

Was Kepler zu ärgern schien, war die Tatsache, dass Bürgi am Kaiserhof mit 720 Gulden Jahressalär vierzig Prozent mehr Lohn erhielt als Kepler und ihm dazu noch grössere Beträge für abgeschlossene Einzelwerke ausbezahlt wurden, wie dasjenige seiner Bergkristalluhr, die zeitgleich mit Keplers Publikation der «Tabulae Rudolphinae» 1627 fertiggestellt wurde. Da sich Kepler zu diesem Thema im Buch nicht verbal äussern durfte, griff er zur Methode der graphischen Karikatur im Frontispiz-Titelbild dieses während mehr als zwei Jahrhunderten weltweit genutzten Werkes. Es stellt den Tempel der Astronomie dar, in dem er und die Brahe-Erben für Jost Bürgi keinen Platz mehr finden. Somit steht er mit anderen Figuren, welche die für die Astronomie tätigen Hilfswissenschaften symbolisieren, auf dem Tempeldach. Über das Dach rauscht unter wohlwollender Beobachtung des auf einem rollenden Thron sitzenden Kaisers der Reichsadler Karl von Liechtenstein hinweg, die beiden vorderen Bürgi-Symbolfiguren der algebraischen Geometrie und Logarithmen mit Golddukaten eindeckend. Karl von Liechtenstein, Begründer des Fürstenhauses und Vorfahre in 15. Generation des heute auf Schloss Vaduz regierenden Fürsten Hans Adam II. von und zu Liechtenstein, war mit Bürgi und Kepler gleichzeitig als Obersthofmeister auf dem Hradschin tätig und hatte 1622 als böhmischer Vizekönig und als Mäzen bei Bürgi eine Bergkristalluhr bestellt, die zu gleichen Zeit wie die «Tabulae Rudolphinae» fertiggestellt wurde und für die Jost Bürgi 7594 Gulden ausbezahlt erhielt. Lustig ist diese in der Karikatur angedeutete Situation in Tat und Wahrheit aber keineswegs, denn der vereinbarte Lohn wird Kepler jahrelang nicht ausbezahlt oder nur in Form von Schuldscheinen auf Reichsstädte, die er selbst eintreiben soll. Bei einem herbstlichen Parforce-Ritt zu diesem Zwecke vom niederschlesischen Fürstentum Sagan, in dem er seit 1628 beim Kriegsherrn Wallenstein angestellt ist, an den Fürstentag in Regensburg erkrankt der von Kindheit an körperlich schwächliche Johannes Kepler so sehr, dass er nach zwei Wochen an einer damals als «Schwindsucht» bezeichneten Lungenentzündung am 15. November 1630 in Regensburg stirbt.

  

Gerechtigkeit für Bürgi und Ursus

 

Johannes Kepler stirbt genau drei Jahrzehnte nach Jost Bürgis bestem Freund Nikolaus «Ursus» Reimers (1551-1600), den Tycho Brahe mit Lügen beim Kaiser zuerst aus seinem Amt des Kaiserlichen Mathematikers verdrängt und es selbst besetzt und ihn anschliessend mit Verleumdungen bei Kaiser und Erzbischof sowie mit Gewaltandrohungen bis in den Tod treibt. So bietet das 450-Jahr-Jubiläum Johannes Keplers – der Ursus 1595 selbst als seinen besten Mathematiklehrer bezeichnet hatte – auch Gelegenheit, diesen beiden Kepler-Partnern Jost Bürgi und Ursus zu ihrer verdienten Gerechtigkeit und geschichtlich wahren Statur zu verhelfen.     

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*)  Verbunt Frank und Schrimpf Andreas: The star catalogue of Wilhelm IV. von Hessen-Kassel. In: Astronomy & Astrophysics, März 2021; Jörg Römer: Kopernikus aus Kassel. In: Der Spiegel, Nr. 20, 15.5.2021, S. 110-111. 

**) Kepler schreibt 1627 in der Einleitung der «Tabulae Rudolphinae» zu Bürgis Logarithmenrechnung: «Da hat doch der Tropf – als ein Zauderer und Wächter seiner Geheimnisse – den Fötus bei der Geburt eingehen lassen, und hat ihn nicht zum Nutzen der Allgemeinheit aufgezogen.»

***) Johannes Kepler schreibt 1606 nach dreijähriger Zusammenarbeit mit Jost Bürgi in Prag: «Justus Byrgius, Uhrmacher S. Hl. Kaiserlichen Majestät, übertrifft – obwohl er der Sprachen unkundig ist – trotzdem leicht in der mathematischen Wissenschaft und Forschung viele ihrer Professoren. In der Tat hat er sich ihre Praxis in einem solchen Ausmass angeeignet, dass ihn eine folgende Generation auf seinem Gebiet als keine geringere Koryphäe achten wird als Dürer in der Malerei, dessen Ruhm, wie ein Baum, unmerklich weiterwächst.»

****) Kepler-Biograf Max Caspar schreibt: «Einen Freund, wie er ihn brauchte, hatte Kepler in dem ausserordentlich begabten kaiserlichen Mechaniker und Uhrmacher gefunden. (…) Kepler und Bürgi steckten oft beieinander zu gemeinsamer Arbeit und Unterhaltung.»

 

 

Literaturquelle: Fritz Staudacher: Jost Bürgi, Kepler und der Kaiser. 4., überarbeitete und erweiterte Auflage 2018, 320 Seiten, 286 Abbildungen. Verlag NZZ Libro Zürich. ISDN 978-3-03810-345-5.

Johannes Keplers Tempel der Astronomie in den «Tabulae Rudolphinae» hat 1627 keinen Platz mehr für Bürgi. Das hätte auch Brahe-Zensor Georg von Brahe nicht zugelassen. Aber auf dem als Frontispiz gedruckten Kupferstich hat Kepler das Tempeldach allegorisch besiedelt. Wir erkennen im vergrösserten Bildausschnitt vorne links die Arithmetica Logarithmica und rechts daneben die Doctrina Triangulorum. Besonders diese Bürgi-Figur der Trigonometrie und algebraischen Geometrie deckt der Kaiseradler Karl von Liechtenstein unter Beobachtung durch den Kaiser mit Golddukaten ein.

 

Links: Die Herstellung dieser Planetenuhr mit dem ersten heliozentrisches Planetarium durch Jost Bürgi 1604/05 auf dem Hradschin erlebte Johannes Kepler während sich ihm unter Zuhilfenahme von Bürgis Unterlagen, Methoden und Instrumenten im Frühjahr 1605 die Ellipsenform der Planeten erschliesst.

 

Rechts: Diese astronomische Bergkristalluhr mit Miniaturglobus erstellt 1622/27 Jost Bürgi in Prag im Auftrag des Fürsten Karl von Liechtenstein für 7594 Gulden zur gleichen Zeit, in der auch Johannes Keplers «Tabulae Rudolphinae» erscheinen. Der Begründer der auf Schloss Vaduz im Fürstentum Liechtenstein ansässigen und heute von Hans Adam II. von und zu Liechtenstein präsidierten Fürstenfamilie schenkt sie dem Kaiser Ferdinand II. als Dank für die Aufnahme des Fürsten in den Orden vom Goldenen Vlies. Beide Uhren zählen heute zu den beeindruckendsten Objekten der Rudolfinischen Kunstkammer im Wiener Kunsthistorischen Museum. [Abbildungen siehe Bürgi-Biographie «Jost Bürgi, Kepler und der Kaiser» von Fritz Staudacher.]      

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