Bürgi-Uhren und Liechtis Spuren
Das 2013 bei Erscheinen der ersten Auflage gültige Historiker-Narrativ lautete, dass Jost Bürgi als Zwanzigjähriger in Strassburg ab zirka 1572 an der zweiten astronomischen Münsteruhr mitgearbeitet haben dürfte, deren Erstellung in den Händen der nach Strassburg ausgewanderten Gebrüder Habegger lag. Die aus dem Thurgau-Städtchen Diessenhofen via Schaffhausen nach Strassburg berufenen Habeggers dürften auf Empfehlung des Frauenfelder Mathematikers Conrad Dasypodius mit dieser anspruchsvollen Aufgabe betraut worden ein, der wiederum mit dem brillanten jungen Landesherrn Wilhelm IV. von Hessen-Kassel in Verbindung stand und bei diesem auch den Namen des jungen Uhrmachertalentes Justus Byrgius erwähnt haben dürfte.
Das sei auch die Basis für die schnelle Einstellung Jost Bürgis’ in Kassel gewesen, bei der Camerarius d. Jg. involviert war, also genau derjenjge Nürnberger Stadtphysikus, Botaniker, Christian-Heiden-Freund und Brahe-Bekannte, dem es Wilhelm IV. durch grosszügiges Mäzenatentum finanziell ermöglicht hatte, aus der
Erbschaft des Zürcher Universalgehrten Conrad Gessner dessen einzigartigen Botaniksammlungen zu erwerben. Also desjenigen Conrad Gessner, dessen Vater
Martin Gessner als Kürschner von Nürnberg nach Zürich gekommen war, dort geheiratet hatte und wie Huldrych Zwingli beim Kappeler Krieg umgekommen war, All das habe ich anlässlich der Auftaktveranstaltung zum von mir einberufenen ersten Lichtensteiger Jost-Bürgi-Symposium im April 2016 im Schweizer Landesmuseum präsentiert, kurz nach Eröffnung des Gessner-500-Jubiläumsjahres.
Diese Schiene zwischen Lichtensteig und Kassel wurde jedoch 2015 an einer zentralen Stelle immer unwahrscheinlicher und völlig abgelehnt von drei
gewichtigen Forschern auf diesem Gebiet: Bürgi-Biograph, Uhrmachermeister und Physiker Ludwig Oechslin, Münsteruhrexperte und Mathematik-Tabellenexperte
Denis Roegel, sowie Uhrmacher, Strassburger Uhrenkenner und Wissenschaftshistoriker Günther Oestmann. Allen war der Name Bürgi bei ihren Studien der Strassburger astronomischen Uhr nie begegnet und sie vermuteten den ersten Schweizer Bürgi-Forscher Rudolph Wolf als Urheber dieser These. Nachdem jedoch alle
anderen Ereignisse historisch gesichert sind, veränderte ich bei der 3. Auflage die Suchrichtung und schreibe nun die auch in die 4. Auflage weitgehend übernommene Version:
«Erlernte Jost B. den Uhrmacherberuf in Winterthur? Wenn nicht in Lichtensteig selbst, wo dann in näherer Umgebung sind um 1565 Uhrmachermeister tätig? In Wil (20 km) war es gemäss Georg von Holtey und Adolf Schenk ein Hans Gunter, in St. Gallen (30 km) wird ein Johann Rudolf Gambli erwähnt und in Winterthur (40 km) mit ihren Turm- und Hausuhren Laurentius Liechti († 1545) und besonders Sohn Erhard Liechti († 1591). Laurentius – Stammvater einer über zwölf aufeinanderfolgenden
Generationen umfassenden Uhrmacherdynastie – hatte seine Turmuhren mit einem horizontalen Waagbalken als Hemmung gebaut, während Bürgi später die Doppelte
Waag erfand. Liechtis astronomische Uhren waren mit Tierkreis-, Sonnen-, Mond- und Drachenanzeigen versehen und erreichten mit relativ einfacher Getriebetechnik erstaunlich genaue Umlaufzeiten. Die Kompetenzen, die Bürgi später charakterisieren, schliessen astronomische Techniken ein, wie auf seinem Wappen anhand zweier Sternsymbole zu sehen ist. Die Lichtensteiger Goldschmiedin Verena Widiz-Forrer könnte den 14- bis 16-jährigen «Jost B.» mit ihrer aus dem Toggenburg nach Winterthur gezogenen Verwandtschaft bekannt gemacht haben, die drei Uhrmacher in ihren Reihen hatte, darunter Hans Forrer (1561–1592).»
Seither verfestigten sich meine Annahmen über die Lichtensteiger Zeit Bürgis beim Goldschmied Widiz, wo er die aus dem elterlichen Spenglerbetrieb bekannten
Erfahrungen der Metallprüfung und Bearbeitung durch eine Ausbildung zum Gold- und Silberschmied metallkundig erweitert und in Bürgis «Fundamentum Metallicum» zur Erz-, Metall- und Münzprüfung aus dem Jahre 1598 festhält. Es ist von ihm verfasst und von Schreiberhand niedergeschrieben, wahrscheinlich im Auftrag des Detmolder Grafen Simon zur Lippe, in dessen Schloss Brake sich Jost Bürgi ab 1595 öfters aufhält.
Ich wende mich 2017 wieder verstärkt Winterthur zu. Leider führen meine mit Stadtarchivarin Marlies Betschart und dem in der Stadtbibliothek mit dem Aufbau
der «Sammlung Winterthur» betrauten Andreas Betschart eingeleiteten Recherchevorschläge zu keinem Resultat, so dass sich aufgrund der zwischen 1532-1587 verlorengegangenen Steuerbücher Winterthurs nur durch eine Analyse vorhandener Zunftbücher neue Erkenntnisse gewinnen liessen. Das wäre ein konkreter Forschungswunsch an die Stadtbibliothek, Einblick in die dort vorhandenen Zunftbücher der Schmiede zu erhalten.
Bestätigung für meine These, Bürgi haben in Winterthur eine Uhrmacherlehre absolviert, finde ich zwar nicht durch die Konservatorin der Winterthurer Uhrensammlung
Kellenberger Brigitte Vinzens und den Uhrmacher Ludwig Oechslin, die Bürgis Uhren völlig unterschiedlicher Herstellung nicht mit den aus der Schmiede Turmuhren fertigenden Liechtis vergleichen wollen. Hingegen entdecke ich in dem wunderschönen und mit höchstem Kultur- und Uhrverstand von Wissenschaftshistoriker und ehemaligem Direktor des Internationalen Uhrenmuseums La-Chaux-des-Fonds Ludwig Oechslin im Jahre 2000 verfassten Buch «Der Bürgi-Globus» auf Seite 60 zwei Abbildungen der 1578 von Bürgi-Zeitgenossen Erhard Liechti gefertigten Konsoluhr als Beispiel eines Automaten und Roboters.
Als Ausgangspunkt einer integralen Uhrmacherkunst kann man sie mit ihrem äusserst schlanken Zahnrädern und rein auf das funktionale ausgerichtete Konstruktion
sehr wohl vorstellen. Bürgi wuchs mit seinen Talenten natürlich darüber weit hinaus – er belieferte mit seinen Uhren nicht Klosterherren, Müller oder Ratsherren wie die Zeitgenossen Erhard und Sohn Andreas Liechti, sondern mit viel edleren Materialien die höchsten Herrschaften der Welt: Kaiser, Könige und Fürsten.
Nach der Lehre bei Liechti hatte dieser JOST BÜRGI die Qualifikation eines Meisters, der auch die astronomischen Zusammenhänge beherrschte und so schon mit Vorsprung auf der Walz mit seinen Talenten auffiel und rasch an den anspruchsvollsten Konstruktionen sass – nicht um sie nachzubauen sondern um sie in allen
möglichen Belangen zu verbessern. Egal auf welchem Niveau er seine Ausbildung begann – er überholte alle. Auch wenn er als Turmuhrmacher begonnen haben
sollte, er würde es nicht geblieben sein solange bis er der vom Kaiser persönlich eingeladen worden war.
Das astronomische Zifferblatt der Turmuhr
Ludwig Oechslins Globusbuch und Liechti-Uhrwerk darin
Fritz Staudacher